Der Berliner Historiker Frank Drauschke sammelt alles aus den Jahren 1914 bis 1918, was noch in den Häusern von Familien lagert.

Er sieht sehr jung aus, fast noch kindlich. Auf dem kleinen Foto von 1918, dass Josef Drauschke in Uniform zeigt, ist der junge Mann aus dem Prenzlauer Berg gerade 19 Jahre alt. Alt genug für den Krieg: Er kommt zur Westpreußischen Fußartillerie, wird Fahrer an der Westfront. Aber es sind keine Autos, die er in diesen letzten Monaten des Ersten Weltkriegs lenkt, sondern Pferdegespanne, die schwere Kanonen ziehen. "Wie in dem neuen Film von Steven Spielberg", sagt Enkelsohn Frank Drauschke, "da sieht man genau so einen Kanonenwagen."

Dass die Geschichte seines Großvaters nun öffentlich im Internet steht, ist kein Zufall. Drauschke ist Geschäftsführer von Facts & Files, einer Berliner Firma für historische Recherchen. Zusammen mit Partnerinstitutionen aus allen Teilen Europas arbeitet er zurzeit an einem Projekt des Europäischen Digitalarchivs "Europeana": Es geht darum, private Erinnerungsstücke aus dem Ersten Weltkrieg zu sammeln und in einem umfassenden digitalen Archiv zugänglich zu machen. "Wir suchen alles: Briefe, Postkarten, Fotografien, Tagebücher, Karten", erklärt der 41-jährige Historiker. "Nichts ist unwichtig."

Hunderttausende Daten

"Europeana 1914-1918" heißt das neue Archiv, vor knapp einem Jahr wurde es unter anderem von der Europeana, der University of Oxford und der Deutsche Nationalbibliothek gestartet. Zunächst gab es eine Pilotphase in Deutschland, ab dieser Woche ist auch die Bevölkerung in Luxemburg, Großbritannien, Dänemark, Slowenien und Irland aufgefordert mitzumachen. Ob knapp hundert Jahre nach Kriegsbeginn überhaupt noch jemand Interesse an einem solchen Archivaufbau haben würde, wussten die Initiatoren anfangs nicht so genau. "Wir haben natürlich gehofft, dass das Thema auf breite Resonanz stößt", sagt Drauschke, "aber dass der Andrang so groß sein würde, hatten wir kaum zu hoffen gewagt." Rund 25 000 Dateien sind mittlerweile auf der Website des nagelneuen Archivs hochgeladen worden. Bis 2014 sollen es noch Hunderttausende mehr werden.

Historisches "Crowdsourcing" nennt man diese Methode, sie ist in der Wissenschaft nicht neu. Schon 1914 rief die Berliner Königliche Bibliothek die deutsche Bevölkerung auf, wichtige Dokumente aufzuheben und abzugeben. Damals ging es vor allem um die sogenannte graue Literatur: Feldzeitungen, Drucksachen, Aufrufe, Flugblätter. "Dass der Krieg ein einschneidendes gesellschaftliches Ereignis sein würde, wusste man schon 1914", so Drauschke. Dem Aufruf folgten viele Menschen, es entstand die berühmte Sammlung "Krieg 1914", die heute zum Bestand der Staatsbibliothek gehört. In einem Partnerprojekt, der "Europeana Collections 1914-1918" werden auch viele Dokumente aus dieser Sammlung bis 2014 digitalisiert und online zugänglich gemacht.

Unzählige Schätze in Privatbesitz

Der Fokus der "Europeana 1914-1918" liegt dagegen bei den unzähligen Schätzen, die noch immer im Privatbesitz schlummern. Denn auch jetzt, fast hundert Jahre später, bewahren viele Familien Erinnerungsstücke von den Großeltern oder Urgroßeltern auf. Bei seinem Vater im Keller fand Frank Drauschke nicht nur Großvaters Reitsporen, sondern auch einen Schildkrötenpanzer, den der junge Josef unterwegs gefunden haben muss.

Die Schildkröte ist mittlerweile ebenfalls Teil der "Europeana 1914-1918". Denn das Internet-Archiv bietet natürlich nicht nur Platz für Papier: "Helme, Becher, Orden, Kleidungsstücke - das kann alles abfotografiert und eingestellt werden." Auch selbstgemachte Brieföffner, Gabeln oder Messer finden sich noch in vielen Haushalten. Die Griffe fertigten die Soldaten aus Granatensplittern oder anderen Metallresten, erklärt Drauschke. "Trench Art heißt das auf Englisch - Schützengrabenkunst." Eine Halskette aus Pferdehaaren und ein Tisch-Gong aus einer umgearbeiteten Geschosshülle kann man ebenfalls schon im Archiv bestaunen.

Das ist der große Vorteil der Digitalisierung: Niemand muss sich von liebgewonnenen Erinnerungsstücken trennen. "Man kann alles behalten und trotzdem der Weltöffentlichkeit zugänglich machen." Das technische Prozedere ist nicht kompliziert: Wer Bilder hochladen will, muss sich auf der Webseite anmelden, dann werden zu den Dateien noch einige Daten abgefragt: Woher stammt das Objekt, wem gehörte es, welche Geschichte steckt dahinter? "Man trägt einfach alles ein, was man weiß. Wenn man nichts Genaues weiß, lässt man die Felder frei."

Briefe von der Front

Die Nutzer wiederum können den kompletten Bestand bequem und kostenlos durchsuchen, zum Beispiel nach Stichwörtern oder Orten oder auch Familiennamen. "Nicht nur für Wissenschaftler wird das Archiv daher großartige neue Möglichkeiten eröffnen", so der Historiker. Insgesamt habe das Projekt großes friedenstiftendes Potenzial, gerade weil es den Blick öffne für das Leid und den Alltag der Zivilbevölkerung - und zwar über alle nationalen Grenzen hinweg. "Man wird mit wenigen Klicks die Tagebücher von Soldaten vergleichen können. Oder die Briefe von Vätern an ihre Kinder."

Generationsübergreifende Zusammenarbeit

Bis es soweit ist, müssen allerdings noch viele Familien europaweit ihre Keller und Dachböden durchstöbern. Bei Facts & Files rät man dabei zur generationsübergreifenden Zusammenarbeit: "Die älteren Familienmitglieder sind oft im Besitz der Erinnerungsstücke, kennen sich aber vielleicht nicht so gut mit dem Internet aus." Sie sollten mal ihre Enkel fragen, ob die nicht bei der Digitalisierung behilflich sein können, meint Drauschke. "Bestenfalls entsteht dann auch in den Familien ein Dialog über den Krieg und das Schicksal der eigenen Vorfahren."

Großvater Josef kam übrigens 1919 unverwundet aus dem Krieg zurück nach Berlin. Aber schon 20 Jahre später wurde er erneut eingezogen, da begann der Zweite Weltkrieg.